ISO-GPS: Tolerierungsgrundsätze (Hüllprinzip – Unabhängigkeitsprinzip)

Spezifikationen (Toleranzen) haben aufgrund ihrer Auswirkungen auf Funktionalität sowie auf Fertigungs- und Montagekosten eine große Bedeutung in der Produktion von Bauteilen und -gruppen. Auch der Qualitätsaspekt darf nicht vernachlässigt werden. Je genauer gefertigt wird, desto zuverlässiger ist in der Regel das Bauteil hinsichtlich Montage- und Funktionssicherheit sowie Lebensdauer. Allerdings verteuern „übertriebene Angsttoleranzen“ die Herstellungskosten.
Toleranzen werden oftmals als ein notwendiges Übel gesehen. Es sollte dennoch jedem Konstrukteur klar sein, dass Werkstücke nicht exakt auf vorgegebene Sollmaße und ohne Abweichungen gefertigt werden können. Deshalb legt die Konstruktion eindeutige zulässige Abweichungen (Toleranzen bzw. Spezifikationen) in technischen Zeichnungen (CAD-Modellen, MBD) fest. Erst durch die sinnvolle und korrekte Anwendung von Maß-, Form-, Lage- und Oberflächentoleranzen ist die vollständige und eindeutige Beschreibung eines Werkstücks und seiner Prüfvorgaben (Verifikation) möglich.
Zunächst muss aus jeder technischen Zeichnung (CAD-Modell, MBD) eindeutig hervorgehen, nach welchem Tolerierungsgrundsatz diese erstellt ist, welche Fertigungsanforderungen sich daraus ergeben und welche Prüf- beziehungsweise Messregeln (Verifikation) zur Anwendung kommen müssen.
Mögliche Tolerierungsgrundsätze:
- Hüllprinzip (bis Ende 2011 nach DIN 7167 – ist zurückgezogen)
- Hüllprinzip (aktuell nach DIN EN ISO 14405-1: Angabe im Schriftfeld: Size ISO 14405 {)
- Unabhängigkeitsprinzip (nach DIN EN ISO 8015 – ist als Standard „default“ festgelegt)
Bis Ende 2011 galt für Zeichnungen mit Angaben über DIN-Normen zu Toleranzen und Passungen automatisch die Hüllbedingung, wenn keine anderslautenden Festlegungen, wie zum Beispiel ISO 8015, enthalten waren. Diese älteren Zeichnungen sollten, um Missverständnisse zu vermeiden, beim Überarbeiten durch folgende Angabe auf den aktuellen Stand gebracht werden: “Size ISO 14405 {”.
Tolerierung nach dem Hüllprinzip (DIN 7167 oder Angaben mit {)
- Einzelne Geometrieelemente, wie Zylinderflächen oder gegenüberliegende parallele ebene Flächen dürfen die geometrisch ideale Hülle des „Maximum-Material-Maßes“ nicht durchbrechen.
- Durch die Hüllbedingung werden Parallelitätsabweichungen gegenüberliegender ebener Flächen und Formabweichungen (Geradheit, Rundheit, Zylinderform …) durch die Maßtoleranz begrenzt.
- Die normgerechte Prüfung erfolgt mit einer Paarungslehre nach dem „Taylorscher Grundsatz“, einem Rundheitsprüfgerät (Formtester), einer Koordinatenmessmaschine oder Messmethoden unter Berücksichtigung statistischer Auswertungen mit Fähigkeitsnachweisen für Maß- und Formabweichungen in Kombination.
Das Hüllprinzip (Standard in ASME-Zeichnungen) gilt, wenn eine der folgenden Angaben in der Zeichnung steht:
- Keine Angabe im Schriftfeld bei alten Zeichnungen (Freigabedatum bis Dezember 2011)
- DIN 7167 im Schriftfeld bei alten Zeichnungen (wurde im Januar 2012 zurückgezogen)
- Size ISO 14405 { im Schriftfeld
- Size ISO 14405 im Schriftfeld und Maßangaben mit {
- ISO 8015 im Schriftfeld und Maßangaben mit {
- ISO 2768-mK-E im Schriftfeld
Hüllbedingung (DIN 7167 oder Angaben mit { im Kreis)
Tolerierung nach dem Unabhängigkeitsprinzip (ISO 8015, ISO 14405-1)
- Maß-, Form- und Lagetoleranzen am selben Geometrieelement dürfen unabhängig voneinander auftreten. Jede Toleranz wird für sich separat geprüft und beurteilt. Sie darf jeweils voll ausgenutzt werden.
- Die Ermittlung der Maßabweichung darf über die Zweipunktmessung erfolgen, die grundsätzlich keine Aussage über Formabweichungen zulässt. Diese ist gegebenenfalls zusätzlich zu tolerieren und mit geeigneter Messtechnik separat zu erfassen.
Das Unabhängigkeitsprinzip gilt, wenn mindestens eine der folgenden Angaben in der Zeichnung steht:
- Keine Angaben zum Tolerierungsgrundsatz im Schriftfeld bei Zeichnungen (ab Januar 2012)
- Size ISO 14405 mit oder ohne Modifikator
- ISO 8015 (bei alten Zeichnungen bis 12-2011 und neuen Zeichnungen ab 01-2012)
- ISO 2768:1989-mK
- ISO 1101, ISO 1302, ISO 21920, ISO 5459, jede beliebige andere GPS-Norm
- Jede ISO-GPS-Norm ruft das gesamte ISO-GPS-System auf und damit gilt als Standard-Tolerierungsgrundsatz das Unabhängigkeitsprinzip.
- Alle Symbole (Rauhigkeits-, Passungsangabe, Form- oder Lagetoleranz …) aus den ISO-GPS-Normen rufen das gesamte ISO-GPS-System auf und damit gilt als Standard das Unabhängigkeitsprinzip.
Unabhängigkeitsprinzip (DIN EN ISO 8015 und DIN EN ISO 14405-1)
- Angaben im Schriftfeld “ISO 8015” oder “ISO 14405” ohne E im Kreis
ISO 8015 muss in aktuellen Zeichnungen nicht mehr angegeben werden!
Die Inhalte der ISO 8015 gelten seit 2012 als Standard (default-Definition) - Die Größenmaßtoleranz enthält nur Maßabweichungen
- Die Zylinderformabweichung ist anzugeben und darf zusätzlich zum Höchstmaß vorhanden sein
- Das wirksame Größenmaß MMVS kann größer werden als das Höchstmaß ∅ 40,00 mm
Der Autor Manfred Weidemann ist DGQ-Trainer und Geschäftsführer von Quality Office. Quality Office betreut seit über 25 Jahren kleine und mittelständische Unternehmen in den Bereichen Qualitätsmanagement, Prozessoptimierung, Zeichnungsprüfung und Längenprüftechnik/Fertigungsmesstechnik.